Granatapfel

"Unbestrittener König des Obstgartens war der Granatapfel, der nicht aus einem Samenkorn gewachsen war, das die Steinkirche gesät hatte, sondern aus der Saat der lyrischen Sonntagsschule, denn es war dort in der Sonntagsschule, wo die wirklichen Geschichten erzählt wurden, Geschichten, in denen die Ereignisse zum Leben erwachten, Geschichten, die die Zeitgrenzen des Sonntags und die Bibelseiten überschritten, die in die Welt der Fabelländer und richtiger Männer und Frauen eindrangen. Der Granatapfelbaum war ein höchst geiziger Lieferant. Er brachte seine hartschaligen Früchte nur selten hervor, geduldig gehegt von dickgeäderten Händen und dem Gesicht eines Menschen, den wir nur als »Gärtner« kannten. Nur ihm konnte man vertrauen, wenn es darum ging, die gelegentliche Frucht unter die kleine Gruppe hingebungsvoller Granatapfelwächter zu verteilen, und noch der kleinste Bissen schickte uns auf die Reise ins Land der illustrierten Bibelgeschichten. Der Granatapfel war die Königin von Saba, Aufstand und Krieg, die Leidenschaft der Salome, die Belagerung von Troja, das Lob der Schönheit im Hohen Lied des Königs Salomo. Diese Frucht, die aussah und sich anfühlte, als hätte sie ein Herz aus Stein, öffnete uns die Keller des Ali Baba, befreite den Geist aus Aladins Wunderlampe, schlug die Saiten der Harfe, die Davids verwirrte Sinne heilte, teilte die Wasser des Nil und erfüllte das Pfarreigehöft mit Weihrauch aus dem düsteren Tempel Jerusalems." (Aus: Soyinka, Wole: Aké. Jahre der Kindheit, Zürich 1986.)